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Default Pauline Réage: Geschichte der O & Rueckkehr nach Roissy

Ein verliebtes Maedchen - Teil 2
Autor: Pauline Réage
Uebersetzt von: Margaret Carroux


Woher mir diese immer wiederkehrenden und so hartnaeckigen Traeume kamen, gerade vor dem Einschlafen, immer dieselben, in denen die reinste und scheueste Liebe stets die qualvollste Hingabe guthiess oder vielmehr forderte, in denen kindische Bilder von Ketten und Peitschen der Gewalt die Symbole der Gewalt hinzufuegten, das weiss ich nicht.
Ich weiss nur, dass sie heilsam fuer mich waren und mich raetselhafterweise beschuetzten -
im Gegensatz zu den vernuenftigen Traeumen, die sich um das taegliche Leben drehen und versuchen, es zu ordnen und zu zuegeln.
Ich habe es nie verstanden, mein Leben zu zuegeln.

Indes ging alles so vor sich, als ob diese seltsamen Traeumereien mir dabei behilflich seien, als ob mit diesen Rasereien und dieser Wollust des Unmoeglichen irgendein Loesegeld bezahlt werde:
die Tage, die darauf folgten, waren dadurch sonderbarerweise leichter geworden, waehrend die besonnenen Zahlungsanweisungen auf die Zukunft und die Vorausberechnungen des gesunden Menschenverstandes sich jedesmal durch die Ereignisse widerlegt sahen.

Ich lernte sehr bald, dass man die oeden Stunden der Nacht nicht dazu verwenden durfte, erdachte Wohnungen zu moeblieren, nicht existierende,
aber moegliche Wohnungen, wo Verwandte und Freunde zusammen gluecklich waeren (welche Schimaere!) -
dass man aber unbesorgt geheime Schloesser einrichten koenne, vorausgesetzt, man bevoelkert sie mit verliebten Maedchen, prostituiert durch die Liebe und triumphierend in ihren Ketten.

Auch die Schloesser von de Sade, die entdeckt wurden, nachdem die meinen schon laengst in der Stille erbaut worden waren, haben mich niemals ueberrascht, ebensowenig wie seine Freunde des Verbrechens:
ich hatte schon meine Geheimgesellschaft, eine viel harmlosere und unmuendigere.

Aber er hat mir begreiflich gemacht, dass wir alle in dem Sinne Kerkermeister und alle im Gefaengnis sind, als es in uns immer einen gibt, den wir uns selbst anketten, den wir einsperren, den wir zum Schweigen bringen.
Durch einen merkwuerdigen Rueckschlag geschieht es, dass das Gefaengnis sogar die Freiheit erschliesst.

Die Steinmauern einer Zelle, die Einsamkeit, aber auch die Nacht, wiederum die Einsamkeit, die wohlige Waerme des Bettes, die Stille befreien dieses Unbekannte, dem wir den Tag verweigern.
Es entflieht uns und entflieht unaufhoerlich, trotz der Mauern, trotz der Zeitalter und Verbote.
Es geht von einem zum anderen von einer Epoche, einem Land zum anderen.

Diejenigen, die fuer es das Wort ergreifen, sind nur uebersetzer, denen, ohne dass man weiss, warum (warum gerade sie, warum an jenem Tage?) erlaubt wird, einen Augenblick einige der Faeden dieses uralten Netzes verbotener Gedanken zu ergreifen.

Schliesslich, nach fuenfzehn Jahren, warum nicht ich?
Was ihn, fuer den ich diese Geschichte schrieb, begeisterte, sagt sie noch, war ihre Aehnlichkeit, die sie mit meinem Leben hatte.

Konnte es sein, dass die Geschichte dessen verzerrtes Spiegelbild war?
Dass sie dessen Schlagschatten war, unkenntlich, verkuerzt wie der eines Spaziergaengers in der Mittagssonne, oder auch deshalb unkenntlich, weil er teuflisch verlaengert war wie der Schatten eines Menschen, der an einem leeren Strand vom Atlantischen Ozean zurueckkommt, wenn die Sonne in Flammen hinter ihm versinkt?

Zwischen dem, was ich zu sein glaubte, und dem, was ich erzaehlte und zu erfinden glaubte, sah ich zugleich einen so weiten Abstand und eine so nahe Verwandtschaft, dass ich mich selbst darin nicht erkannte.

Zweifellos nahm ich mein Leben nur mit so viel Geduld (oder Passivitaet oder Schwaeche) hin, weil ich genau wusste, dass ich, wenn ich es wuenschte, dieses andere, verborgene Leben wiederfinden wuerde,
das ueber das Leben hinwegtroestet, das sich nicht eingestehen, nicht mit jemandem teilen laesst -
und siehe da, dank ihm, den ich liebte, gestand ich es ein und teilte es von nun an mit jedem, der wollte,
ebenso vollkommen prostituiert in der Anonymitaet eines Buches wie in dem Buch dieses Maedchen ohne Gesicht, ohne Alter, ohne Namen und sogar ohne Vornamen.

Ueber sie hat er niemals eine Frage gestellt.
Er wusste, dass sie eine Idee war, eine fluechtige Vorstellung, ein Schmerz, die Negation eines Schicksals.

Aber die anderen?
René, Jacqueline, Sir Stephen, Anne-Marie?
Und die Orte, die Strassen, die Gaerten, die Haeuser, Paris, Roissy?
Und die Verhaeltnisse?
Ja, die glaubte ich zu kennen.

René zum Beispiel (ein sehnsuchtsvoller Vorname) war die Erinnerung, nein, die Spuren einer Jugendliebe oder vielmehr einer Hoffnung auf Liebe, die ansonsten niemals existierte, und René hat niemals geahnt, dass ich ihn lieben koennte.

Aber Jacqueline hat ihn geliebt.
Und vor ihm mich.

Indes war sie nicht mein erster Liebeskummer gewesen.
Fuenfzehn war sie, wie ich, und das ganze Schuljahr hindurch hatte sie mich verfolgt und sich ueber meine Kaelte beklagt.
Kaum war sie in die Ferien entschwunden, da erwachte ich aus dieser Kaelte.

Ich schrieb ihr.
Juli, August, September, drei Monate lang lauerte ich dem Brieftraeger vergeblich auf.
Trotzdem schrieb ich.
Diese Briefe haben alles zerstoert.

Jacquelines Eltern verboten ihr, mich zu sehen, und von ihr, die nun in eine andere Klasse ging, erfuhr ich, dass "das eine Suende sei".

Was war denn eigentlich eine Suende?
Was warf man mir vor?

Der Tag ist auch nicht unschuldiger...

Rosalinde und Celia hatte ich neu erfunden, in aller Harmlosigkeit - die nicht anhielt.

Jacqueline, die wirkliche Jacqueline, kommt also in der Geschichte nur mit ihrem Vornamen und ihrem hellen Haar vor.
Die Jacqueline der Geschichte ist eher eine blasierte, blasse junge Schauspielerin, mit der ich eines Tages in der Rue de L'Eperon zu Mittag gegessen hatte.

Der alte Mann, der ihr ihren Schmuck, ihre Schneiderkostueme und ihren Wagen bezahlte, rief mich als Zeugen an: "Sie ist schoen, nicht wahr?"

Ja, sie war schoen.
Ich habe sie niemals wiedergesehen.

Ist René etwas, das ich haette erraten koennen, wenn ich ein Mann gewesen waere?
Einem anderen Mann derart hoerig, dass er ihm alles abtritt und dieses Gebaren eines Vasallen dem Lehensherrn gegenueber nicht einmal fuer anachronistisch haelt?
Das befuerchte ich.
Waehrend die imaginaere Jacqueline im wahrsten Sinne des Wortes die Fremde war.

Allerdings brauchte ich lange, um mir darueber klar zu werden, dass ein Maedchen wie sie - die ich verzweifelt bewunderte - mir in einem anderen Leben meinen Geliebten genommen hatte.

Und ich raechte mich, indem ich sie nach Roissy schickte, ich, die ich jede Rache zu verachten vorgab und nicht einmal imstande war, es zu erkennen.

Das Ersinnen einer Geschichte ist eine sonderbare Falle.

Sir Stephen hingegen hatte ich mit eigenen Augen gesehen.
Mein damaliger Geliebter, derselbe, von dem ich gerade gesprochen habe, hat ihn mir eines Nachmittags in einer Bar in der Naehe der Champs-Elysees gezeigt:
halb auf einem Hocker sitzend vor der Mahagonitheke, schweigend, ruhig, wie ein Fuerst aussehend mit jenen grauen Augen, die junge Maenner und Frauen faszinieren -
er hat ihn mir gezeigt und gesagt: "Ich verstehe nicht, dass die Frauen solche Maenner nicht den Knaben von dreissig Jahren vorziehen."

Er war noch keine Dreissig.
Ich habe nicht geantwortet: "Aber sie ziehen sie ihnen ja vor."

Den Unbekannten habe ich lange angeschaut.
Vielleicht fuenfzig Jahre, bestimmt Englaender.
Und was sonst noch?
Nichts.

Aber dieser stumme, einseitige Kontakt zwischen ihm und meinem Gefaehrten,
zwischen ihm und mir ist zehn Jahre spaeter blitzartig wieder aufgetaucht, mitten in der Nacht, die nur der Schein der Lampe auf meinem Nachttisch durchloecherte,
und die Hand auf dem Papier hat ihn mit einer neuen Bedeutung noch schneller wiedererstehen lassen als die ueberlegung.

Anne-Marie kenne ich ueberhaupt nicht.
Eine meiner Freundinnen (die ich respektiere, und ich respektiere nicht leicht jemanden) koennte sehr wohl Anne-Marie sein, waere sie nicht die Keuschheit und Anstaendigkeit in Person:
ich will damit sagen, Anne-Marie haette die Entschlossenheit und Strenge von ihr haben koennen, und die Unverbluemtheit und die tadellose und redliche Art und Weise, wie sie ihr Gewerbe ausuebte.

Offen gestanden, die fraglichen Gewerbe (das von O, das von Anne- Marie, Hure oder Kupplerin, wenn ich mich deutlich ausdruecken muss) kenne ich nicht.

Wenn ein entruesteter grosser Schriftsteller in meiner Erzaehlung die Erinnerungen einer Schoenen sehen will -
und zu seiner Entschuldigung gesteht, dass er sie nicht gelesen habe -
so irrt er zweimal:
es sind keine Erinnerungen, und ich bin keine Schoene, wie ritterlich dieser Ausdruck auch sein mag.

Sagen wir, um ihm eine Freude zu machen, dass ich zweifellos meinen Beruf verfehlt habe.
Ist es nach dem gekuerzten Personenverzeichnis, wie im Theater, noch interessant, die Schauplaetze der Handlung genau anzugeben?
Sie sind Allgemeingut.

Die Rue de Poitiers und das Séparé bei La Pérouse,
das Zimmer im Stundenhotel in der Naehe der Bastille mit dem Spiegel an der Decke,
die Strassen im Quartier St.- Germain,
die sonnigen Quais der Ile St. Louis,
der trockene, weisse Kies im provençalischen Hinterland und dieses Roissyin- Frankreich, bei einem kurzen Ausflug im Fruehling entdeckt,
kaum etwas anderes als ein Name auf der Landkarte, gewiss, nichts ist erfunden, und ebenso wenig die Astern, von denen ich Ihnen gesagt habe, dass wir sie wiederfinden wuerden.

Ebenfalls nicht erfunden - eher gestohlen, und ich bitte ihn nachtraeglich um Verzeihung, aber es war ein Diebstahl aus Bewunderung - sind die Masken von Leonor Fini.

Anscheinend habe ich auch den Salon einer Dame gestohlen und ihn einer abscheulichen Verwendung zugefuehrt:
den Salon von Sir Stephen, stellen Sie sich das vor!
Die Dame hat es mir selbst gesagt, nicht ahnend, mit wem sie sprach (man weiss nie, mit wem man spricht).
Niemals bin ich bei ihr gewesen, niemals habe ich diesen Salon gesehen.

Auch das in einer Bodensenke verborgene Haus habe ich niemals gesehen (und wusste nicht, dass es existierte),
jenes Haus, wo seit Jahren ein Maedchen, das ich schliesslich durch einen Zufall kennenlernte, dem Mann, den es liebte -
und der es mit Hilfe eines unsichtbar in der Wand angebrachten Spiegels und eines Mikrophons ueberwachte -
die Schauspiele bot, die Sir Stephen von O verlangte:
die Hingabe an Unbekannte, die er anheuerte und ihr aufzwang.

Nein, ich habe die Geschichte dieses Maedchens nicht kopiert, noch hat sich das Maedchen von der Geschichte, die ich erzaehle, beeinflussen lassen.
Aber nachdem einmal dem Phantastischen und der Weitschweifigkeit Rechnung getragen war, was die Obsessionen mildert (die unaufhoerliche Wiederholung der Freuden und Misshandlungen war ebenso notwendig wie absurd und unerfuellbar), ueberschneidet sich alles,
Erlebtes oder Getraeumtes, alles erweist sich als gemeinhin geteilt in dem Universum desselben Wahnsinns -
und wenn man es fertigbringt, diesem Universum ins Angesicht zu sehen, dann ist alles -

Greuel und Wunderbares, Traeume und Schaeume - Beschwoerung und Erloesung.

--

Ende

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